Ein Gastbeitrag von Geragogin Ilse Zembaty, M.Ed.
Früher war der sechzigste Geburtstag so etwas wie ein Schreckgespenst. „Jetzt kann es nur mehr
bergab gehen” sagten viele und nahmen sich selbst jede Lebensfreude. Heute ist das teilweise ganz
anders: Vieie versuchen krarnpfhaft, sich weiterhin jugendlich zu geben. Ziehen sich wie Teenager
an, tragen viel Schminke auf und machen dadurch alles noch viel schlimmer. Warum all das? Weil wir
noch nicht breitenwirksam in Erfahrung bringen, dass das Leben ab Sechzig anders, aber deshalb
nicht weniger freudvoll ist.
Was ist ab Sechzig anders? Nun zunächst, man hat mehr Zeit. Das solite einen eigentlich besonders
freuen v doch nun beginnen sich auch Gedanken einzuschleichen, die man so gar nicht gern mag,
weil sie Fragen aufwerfen und einem vielleicht sogar Angst machen: Wie ist das eigene Leben bisher
verkaufen? Ist es nicht vorbei geflogen, ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen? Was hat man falsch
gemacht? Wo hätte man rechtzeitig etwas ändern sollen? Warum ist alles so iangweiiig, ja oft
geradezu trostlos geworden? ist das Familienleben noch angenehm und ausgeglichen oder eher
frustrierend? Hat man dem Partner noch etwas zu sagen oder lebt man nur aus Gewohnheit so
neben einher? Hätte man sich nicht schon viel früher trennen sollen oder wäre nicht etwa jetzt eine
Scheidung zu überlegen?
All diese Gedanken sind aus dem Leben gegriffen. Meine liebe Haushaltshilfe Anna macht gerade
eine persönliche Krise durch und stellt sich die ernsthafte Frage, ob sie nicht das bisher gelebte Leben
hinter sich lassen sollte. Sie suchte eine Psychologin auf- ihr Mann übrigens auch — und diese
meinte, dass mit professioneller Hilfe nur etwa zehn Prozent aller Ehen gerettet werden können.
Diese pessimistischen Aussichten beunruhigen Anna natürlich noch mehr und ich muss ganz schön
viel Energie aufbringen, um ihr ihre Angst vor dem Ende ihrer Ehe auszureden. Ausreden ist dabei
nicht der richtige Begriff, denn ich bemühe mich, ihr neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Was ist denn
seit ihrer Eheschließung vor mehr als zwanzig.lahren denn so anders geworden? Nun, die beiden, ihr
Mann ein gesuchter Handwarker und sie haben sich nichts mehr zu sagen, meint Anna. Kunststück,
wenn man in den letzten Jahren auf beiden Seiten so viel gearbeitet hat. Inklusive Nebenjobs kommt
jeder von beiden so auf sechzig bis siebzig Wochenstunden, Samstag, Sonntag mit eingerechnet. Da
gab es keine Freizeitabenteuer, kaum gemeinsame Essen, fast keine Uriaube und natürlich auch
keine Gespräche mehr. Wie aber kann man dieser Entfremdung wirkungsvoll begegnen?
Zunächst muss man einsehen, dass man dem zu erringenden Wohlstand zu viel Zeit — kostbare
gemeinsame Zeit —geepfert hat. Nun gibt es zwar eine schön eingerichtete Wohnung, ein relativ
großes und teures Auto, aber die Freude daran will nicht mehr so recht aufkommen. Hans, Annas
Mann hat sich inzwischen dem Kegeln verschrieben und sich im Kegelklub einen eigenen
Freundeskreis aufgebaut. Kein Trost für Anna, denn nun ist er zum Wochenende meist unterwegs
und Zeit für ein Miteinander gibt es kaum noch. Also überlegt Anna insgeheim eine Trennung in der
Hoffnung, vielleicht doch noch einen anderen Lebenspartner zu treffen.
Mich kostet es viel Energie, Anna zu erklären, dass eine Scheidung keine gute Idee ist. Anna ist das
Alleinsein nicht gewohnt — und ich traue es ihr auch nicht zu. Sie ist nicht selbständig genug und hat
zu wenig eigene Interessen, um ihr Leben wirklich in die Hand zu nehmen. Besser wäre es also, die
gemeinsamen Fehler aufzuarbeiten und mehr Zeit für einander zu haben. Anna hat das große Glück,
dass ihr Mann ebenfalls noch an der Ehe festhalten will und bereit ist, auf sein Hobby zumindest
teilweise zu verzichten, bzw. die Zeit dafür einzuschränken. Ein gemeinsamer Urlaub, der beiden
Freude machte, brachte alles Wieder ins Lot. Die Aussichten, ihre Ehe auch jenseits der Sechzig noch
freudvoll zu gestalten, stehen 3150 gar nicht so schlecht.
Diese kleine Episode zeigt uns, dass wir um eine Bestandsaufnahme zum Ende unserer aktiven
Berufszeit wohl in den seltensten Fällen herumkommen. Zu viel hat sich zwischenzeitlich, fast
unbemerkt, geändert. Meist gilt das auch für das Familienleben, das wohl nicht mehr so eng ist.
Wenn die Kinder aus dem Haus sind, ist man zwangsläufig mehr mit sich selbst beschäftigt. Das
gefällt manchen gar nicht, denn wir alle sind Gewohnheitstiere. die vor gravierenden Änderungen
zurückschrecken. Diese aber sind unumstößlich notwendig, wollen wir die nächsten zehn, zwanzig
dreißig Jahre möglichst gesund und sinnerfüllend erieben.
Es ist mir wichtig zu betonen. dass die Jahre ab Sechzig Genussjahre sein sollten und dass jeder,
unabhängig von finanzieller Lage und sozialer Umgebung, sie nach eigenen Vorstellungen gestalten
kann. Man hat sowohl seine Gesundheit als auch seine persönliche Energie weitgehend in der
eigenen Hand, wenn man nur ein paar Dinge berücksichtigt. Um welche Voraussetzungen es sich
dabei handelt, wollen wir in den nächsten <kapiteln diskutieren.